Das „Zigeunerfamilienlager“ von Birkenau in den Augen von Lucie Adelsberger (1895-1971)

Das Gelände des ehemaligen „Zigeunerfamilienlagers“, Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Foto: Frank Reuter

Lucie Adelsberger war eine bedeutende Kinderärztin, Internistin und Allergologin am berühmten Robert-Koch-Institut zu Berlin. Kurz nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten verlor sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ihre Stellung und versuchte sich fortan als Privatärztin durchzuschlagen. Im Mai 1943 wurde Adelsberger festgenommen und in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort wurde sie dem „Zigeunerfamilienlager“, das zwei Monate zuvor eingerichtet worden war, als Häftlingsärztin zugeteilt. Durch ihre 1956 veröffentlichten Erinnerungen wurde sie zu einer Chronistin der furchtbaren Lagerbedingungen, die innerhalb weniger Monate zum Tod tausender Menschen führten. Die hohe Sterblichkeit konterkarierte die vermeintlichen Privilegien des Familienlagers (Zivilkleidung, Musikinstrumente, Kindergarten, Milchzuteilungen für Kleinkinder und Schwangere u.a.). Als Adelsberger ihren Dienst begann, war sie überrascht, wie viele Artisten unter den Sinti und Roma zu finden waren. Selbst die Blockälteste war von Beruf Seiltänzerin. An einem Sonntag wurde sogar ein Fest mit Akrobaten und Musikern veranstaltet. Einer der Häftlinge trat als Clown auf. Die Veranstaltung wurde jedoch plötzlich durch einen schrillen Pfiff unterbrochen und „Blocksperre“ verhängt. „Im Nu sind die Massen in ihre Baracken getrieben, nicht mit Musik, sondern mit Knüppeln und Stöcken und Hieben“, erinnerte sich Adelsberger. Nach mehreren Stunden fuhren Lastwagen vor. SS-Leute rissen die Türen auf, riefen Häftlingsnummern aus und überprüften die Tätowierungen auf dem Arm. An diesem letzten Maisonntag des Jahres 1943 wurden insgesamt 1.035 typhuskranke bzw. typhusverdächtige Häftlinge selektiert – Adelsberger nennt fälschlicherweise „2.500 tschechische Zigeuner“, was auf ein Lagergerücht zurückgehen dürfte – und in den Gaskammern ermordet. Adelsberger resümierte: „Von da ab wußten wir, daß alles Lachen und alles Spiel im Lager immer nur der Auftakt war.“

Das „Zigeunerfamilienlager“ existierte noch bis Anfang August 1944. Dann wurden einige hundert arbeitsfähiger Insassen in andere Lager verlegt und die verbliebenen 2.897 Insassen vergast. Adelsberger selbst wurde im Januar 1945 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verlegt, wo sie am 2. Mai 1945 von der Roten Armee befreit wurde.

 

Autor: Martin Holler

 

Quellen:

Adelsberger, Lucie: Auschwitz. Ein Tatsachenbericht. Berlin 1956; Gedenkbuch: Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Bände 1 und 2. München 1993; Adelsberger, Lucie: Auschwitz: A Doctor’s Story. Boston 1995; Seidler, Eduard: Lucie Adelsberger, 12.4.1895 Nürnberg – 2.11.1971 New York: Ärztin, Wissenschaftlerin, Überlebende des Holocaust. In: Heidel, Caris-Petra (Hrsg.): Die Frau im Judentum. Jüdische Frauen in der Medizin. Frankfurt a.M. 2014, S. 249-252; Seidler, Eduard: Jüdische Kinderärzte 1933-1945. Entrechtet/Geflohen/Ermordet. Basel 2007.

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